Kulturwandel

Das anmaßende „Wir“ in Leitbildern

Die Wirksamkeit von Leitbildern hängt nicht nur von den Inhalten, sondern auch vom Sprachstil ab. Denn Menschen ziehen Parallelen zwischen dem sprachlichen und dem persönlichen Umgang. Wer sich falsch angesprochen fühlt, verschließt sich den Inhalten. Wer sich gegängelt fühlt, weil ein Leitbild beispielsweise wie ein Gesetzestext formuliert ist, wird sich kaum daran orientieren. Das aber muss das Ziel eines Leitbildes sein: Ein Leitbild sollte keine Verhaltensregeln kommunizieren, sondern eine gute Idee bewerben. Sie ist als freundliche Einladung zu verstehen und muss aus sich selbst heraus überzeugen.

 Subtil autoritär 

Selbstverständlich formulieren Organisationen nicht bewusst unfreundlich oder gesetzesartig. Im Gegenteil: Leitbilder klingen häufig sehr kollegial … und enthalten doch subtile Zumutungen, die sie ihrer Überzeugungskraft berauben. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung der 1. Person Plural: Eine Organisation schreibt in Wir-Form und möchte damit zeigen, dass sie sich als Gemeinschaft oder Familie versteht. Das kann funktionieren. Aber sie möchte auch zeigen, dass das Leitbild von allen getragen wird. Genau diese Behauptung verkehrt sich letztlich ins Gegenteil, weil eine solche sprachliche Vereinnahmung Widerstand hervorruft. Wenn auch nur unbewusst.

 Diktierte Werte zerschellen 

Eine Vision oder eine Mission in der Wir-Form niederzuschreiben, findet niemand bemerkenswert. Dass Organisationen Zielformulierungen benötigen, lässt sich nachvollziehen. Solche Zielformulierungen fürs große Ganze lassen Auslegungen und somit Handlungsspielräume zu. Ein Zielkonflikt zwischen Individuum und Kollektiv bleibt deshalb aus; im günstigsten Fall entstehen sogar neue Ideen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Spätestens aber bei den Werthaltungen, die das kollektive Handeln steuern sollen, geht diese Distanz verloren. Denn parallel zur Organisation haben auch die Individuen einen Wertekompass, den sie nicht ignorieren können, selbst wenn die Organisation dies einfordert.

 Alle Menschen haben einen Wertkompass 

Solche diktierten Werte greifen – anders als die Vision – in das individuelle Arbeitshandeln ein. Beispielhafte Sätze sind: „Wir legen großen Wert auf den persönlichen Kontakt.“ oder „Wir sind überdurchschnittlich motiviert.“ Solche Sätze führen zu Konflikten, weil individuelle Werte und Werte der Organisation unter Umständen nicht zueinander passen, aber der Auslegungsspielraum bei den Werten sehr eng ist. Das „Wir“ als Ansprache gerinnt in so einem Fall zu einer organisationalen Anmaßung … und die Menschen nehmen das auch so wahr.

Verschlimmernd kommt hinzu, dass den beiden beispielhaften Sätzen ein abschwächendes Modalverb wie „wollen“ fehlt. Ein solches Modalverb würde Toleranzen schaffen, weil es eine Wirklichkeitsaussage in eine Möglichkeitsaussage verwandelt. Etwas wird als wünschenswert oder als in der Zukunft liegend beschrieben. Was nicht ist, kann ja noch werden. Eine inhaltliche Dissonanz geht über in eine zeitliche Toleranz. Der Einzelne gewinnt Zeit, um sich für oder wider einen Wert zu entscheiden, und damit entsteht der Raum für wünschenswerte organisationale Entwicklungen.

 Der Weg zum echten Wir 

Das Problem des anmaßenden Wirs erfährt eine weitere Verstärkung, wenn unklar bleibt, wer der Absender des Leitbildes ist: das Kollektiv, die Führungsriege, die Organisation, die Personalabteilung oder das Marketing? Das anmaßende Wir ist nur dann kontraproduktiv, wenn zu vermuten steht, dass das Kollektiv nie gefragt wurde.

Die Empfehlung lautet daher: Legen Sie den Menschen in Ihrer Organisation wichtige Werthaltungen freundlich nahe, ohne sie ihnen aufzuzwängen. Vermeiden Sie das anmaßende Wir. Lassen Sie auf der sprachlichen Ebene Spiel-Räume. Halten Sie es wie das Grundgesetz: In der Präambel weist es darauf hin, wer es verfasst hat: das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt. Wie wäre es also, wenn unter dem Leitbild Ihrer Organisation stehen würde, wer bei der Entstehung geholfen hat? Das wäre ein wichtiger Schritt hin zum echten Wir.